Sonntag, 2. August 2015

Gottseidank bin ich gegangen

Als ich damals nach Berlin zog, war das Zufall. Übermut. Nichts geplantes. In meinem niedersächsischen Kaff habe ich mich ganz wohl gefühlt. Eigentlich war alles ganz cool. Ich bewegte mich traumwandlerisch nüchtern durch die lokale, dennoch landesweit bekannte Drogenszene, völlig desinteressiert daran, irgendwas von dem Zeug zu probieren, was sich alle um mich herum reinpfiffen. Landesweit, zumindest polizeilich landesweit bekannt deshalb, weil sich ein paar RAF-Terroristen zu uns verirrten, um Unterschlupf zu finden. Aber das war weit vor meiner Zeit. Davon zehrten alle noch lange. Ehrensache und so. 

Was ich also sagen will: eigentlich hatte ich keinen Grund, nach Berlin zu gehen. Wie alle wichtigen Lebensentscheidungen habe ich auch diese en passant getroffen. Und wie so oft stellte sich auch hier raus, dass es zum Ende hin gedacht das einzig Richtige war. 

Dieses Wochenende wurde das mal wieder klar. Ich war drüben. Früher gehörten wir zum Zonenrandgebiet. Heute würde ich es eher Zone nennen. Die Zone nach der Neutronenbombe. Menschenleer. Wohnungen verwaist. Die paar Leute, die auf der Straße sind, haben erkennbar kein Hirn mehr. Weggesoffen. Psychosen. Verarmt. Ich wüsste nicht, wo ich in Berlin hingehen müsste, um soviel zerstörte Menschen auf einem Haufen zu sehen, wie in dem Kaff, aus dem ich komme (= Veranschaulichung durch Übertreibung. Natürlich weiß ich, wohin ich gehen müsste).

Mit meiner Mutter gehe ich spazieren, zur Eisdiele, seit Menschengedenken in italienischem Familienbesitz, das beste Eis ever. Besser als in der Gotzkowskystraße in Moabit. Sie erwähnt, dass Schützenfest ist. Ja, die heidnischen Sitten und Gebräuche der Landbevölkerung.

Wir schlendern durch die Straßen, plötzlich wird es laut. Der Schützenumzug trottet um die Ecke. Er besteht aus ca. 30 Mann in albernen Uniformen, sie gehen durch menschenleere Straßen, eskortiert von einem Polizeiwagen an der Spitze und einem Krankenwagen am Ende - der ganze Zug ist kaum 50 Meter lang. Niemand steht am Straßenrand, außer meiner Mutter und mir.

Offenbar Nachwuchsprobleme, der Fachkräftemangel macht vor niemandem halt, denn auch in diesem Umzug schlurfen vor allem Grenzdebile mit. Freudlose und stumpfe Gesichter. Ich bin fasziniert von diesem Geisterzug. Ärgere mich, dass ich kein Handy dabei habe, um diese gespenstische Szene zu fotografieren.

Was ist nur aus meinem coolen Kaff geworden? Und was wär aus mir geworden, wenn ich geblieben wäre? Schnell wieder weg, länger als zwei Tage halte ich das nicht aus.

3 Kommentare:

  1. Und was macht die Politik? Nix, wie immer. Mit immer mehr verwaisten laendlichen Gegenden wird es irgendwann ein Problem geben. Die Infrastruktur ist nicht mehr zu halten, somit wird es noch mehr verwaisen.
    Hier in England ist das anders. Hier haben die Doerfer Charme, Du lebst gerne in Deinem Cottage und auch wenn etliche Pubs die letzten Jahre aufgeben mussten, gibt es doch in jedem Dorf mindestens einen, der das Dorfleben zusammenhaelt...

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    1. Nach Austen, Woodehouse, Foster, Mitford, Howards End und nicht zuletzt Downton Abby habe ich ohnehin eine tiefe Sehnsucht, in einem englischen Cottage zu leben... Ich stell mir das fabelhaft vor :)

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    2. Das ist es auch. Dazu ist die Landschaft oft fabelhaft und die Menschen sind nett und locker. In den Staedten hingegen brodelt die unausgegorene Migration. Auch wenn hier die Politik weit mehr tut als in D, mucken selbst die sonst recht toleranten Englaender.

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